Ein deutsches Requiem
Aufführung
Laudinella St. Moritz, 7. November 2009, 20:00
Musikalische Leitung Gaudenz Tscharner
Regie & Konzept Serge Honegger
Lichtinstallation Regina Meier
Klavier Claudia Dischl, Risch Biert
Sopran Rebecca Ockenden
Bariton Markus Oberholzer
Chor Engadiner Kammerchor
Im Zwielicht – Programmheftbeitrag zur Konzeption der Lichtinstallation
Brahms hat in seiner Textauswahl für sein Requiem auf alle Anspielungen auf das Jüngste Gerichts, die Strafe Gottes und den Erlösungstod verzichtet. Stattdessen konzentrierte sich der Komponist auf den Gedanken der irdischen Vergänglichkeit und suchte eine künstlerische Form für diesseitigen Trost. Das Werk von Brahms weist – anders als Verdis Totenmesse – überhaupt keine opernhaften Züge auf und erfordert keine drastische Bebilderung. Aber durch seine starke Verankerung im Kanon des allgemeinen Musikkonsums lohnt sich der Versuch, eine Aufführungssituation herzustellen, die uns als Zuhörende eine neue Perspektive erschließt und andere Aspekte der Komposition zum Vorschein bringt. Am Beginn der Planung für die Aufführung des Requiems durch den Engadiner Kammerchor stand die Idee, das Werk in kompletter Dunkelheit aufzuführen und höchstens mit minimalen Licht-Interventionen zu arbeiten. Dies hätte zu großen aufführungspraktischen Problemen geführt, weil die Sängerinnen, Sänger und Pianisten auf Licht angewiesen sind, um den Text und die Noten zu lesen. Auch wenn das Ansinnen, das Hörerlebnis durch eine praktisch vollständige Zurücknahme der visuellen Reize in den Vordergrund zu stellen, nicht im ursprünglichen Sinne umgesetzt wurde, bildet es doch die Grundlage für die jetzt eingerichtete Installation mit verschiedenen Leuchtelementen. Auf der Grundlage der kompositorischen Strukturen von Brahms entstand eine Lichtpartitur, die zu den Klavier- und Gesangsstimmen eine stumme, aber optisch wahrnehmbare Erweiterung darstellt und mit unterschiedlichen Lichtintensitäten und –temperaturen arbeitet. Wenn man einen Ausgangspunkt für die beleuchtungstechnische Umsetzung des Requiems definieren möchte, umschreibt der Begriff „Zwielicht“ die Grundstimmung am besten. Die Zwielichtstunde ist jene Zeit der Abenddämmerung, die sich zwischen den Zeiten, zwischen Tag und Nacht befindet und dabei zum Auslöser und zum Gleichnis einer Begegnung zwischen den Lebenden und Toten wird. Im deutschen Requiem befassen sich die Sätze 2 und 3 sowie 5 und 6 mit der vergänglichen Lebenszeit des Menschen. Diese Sätze sind eingefasst von den beiden großen Seligpreisungen (Satz 1 und 2), die Anfang und Ende des Werks bilden und von Herkunft und Hingang des Menschen berichten. Im Zwielicht ist die Ahnung enthalten von der Endlichkeit des irdischen Daseins. Mitten ins Zentrum der Zeit zwischen Anfang und Ende, im 3. Satz, bricht die helle Vision eines Lebens jenseits der Zeit («die lieblichen Wohnungen des Herrn Zebaoth»). Die Verheißung der Heimkehr zu diesem Ursprung ist es, die dem Menschen Zuversicht und Trost spendet, denn «wir haben hier keine bleibende Statt». Die Heimatlosigkeit als Erfahrung der Sinnlosigkeit der Welt, ist keine bloß geographische Heimatlosigkeit, sondern eine allgemeine Erfahrung des Menschen in der Neuzeit. Die von der Motette op. 74 zu Beginn der Aufführung gestellte Frage, warum das Licht dem Mühseligen gegeben sei, bezieht sich auf diese Orientierungslosigkeit. Auf das große «Warum» gibt es keine Antwort, nur die Hoffnung, dass es nach dem Tod ein Erwachen gibt. Dem Menschen bleibt nicht nur Gott, sondern auch der eigene Lebensweg unzugänglich. In seiner Ausgabe der Luther-Bibel strich Brahms folgende Verse des Propheten Jesaja an (Kap. 55, Vers 8 und 9): «Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. Sondern, so viel der Himmel höher ist, denn die Erde, so sind auch meine Wege höher, denn eure Wege, und meine Gedanken, denn eure Gedanken.» Nachdrücklicher kann jene radikale Differenz zwischen Gott und Mensch nicht beschrieben werden. Wie der Kirche, so stand Brahms ebenso der Gefühlsfrömmigkeit seines Jahrhunderts kritisch gegenüber, da er die Sinnbrüche seiner Epoche genau wahrnahm. Das einzig Verlässliche ist ihm «des Herrn Wort», eine Textstelle aus dem ersten Brief des Petrus (Kapitel 1, Vers 24 und 25a), die er im zweiten Satz des Requiems vertont hat. Die Ewigkeit der Schrift und des Wortes stellt er in diesem Satz der Hinfälligkeit des Menschen diametral gegenüber. Es vermag als Einziges in der Dunkelheit, im Zwielicht und in der Heimatlosigkeit dauerhaft zu leuchten.