PROGRAMMHEFTARTIKEL ZUM BALLETT «CINDERELLA»

In Christopher Wheeldons Ballett integriert Cinderella die Welt der Phantasie ganz selbstverständlich in ihren Alltag, um die Widerstände, die ihr die Realität bereit hält, zu bewältigen. Auf diese Weise gelingt es ihr, sich selbst zur treibenden Kraft ihres eigenen Schicksals zu machen. Wheeldon zeigt, wie sich das Schicksal Cinderellas maßgeblich aus zwei Faktoren zusammensetzt: Das Träumen und das Geschehen-Lassen. Hätte Cinderella kein Vertrauen in die sie umgebenden positiven Kräfte, bliebe sie für immer an ihrem Platz bei der Asche verbannt.

Auf die Möglichkeit, dass sich das Märchen erfüllen möge, hoffen ja alle, die den Sog der Imagination verspüren, Lottoscheine kaufen oder sich an Zukunftsversprechen halten: «Jeder von uns sucht nach seinem Heil in einem unsinnigen Schicksal, jeder hofft, auf den Zauber und die Kraft, die er aus einer völlig irrationalen Verbindung erhalten wird», wie Jean Baudrillard schreibt. In Wheeldons «Cinderella»ergibt sich ‹das gute Ende› des Märchens aus dem Zusammenspiel von Cinderellas Eigenantrieb und der Wirkungsmacht der vier Schicksale.

Ist das Leben vom Zufall bestimmt oder liegt ihm ein festgelegter Plan zugrunde? – In Wheeldons Ballett ermöglicht das geheimnisvoll agierende Tänzerquartett Cinderellas Verwandlung zur Ballprinzessin und führt sie schließlich mit dem Prinzen zusammen. Die Lenkung durch Mächte, von denen das Schicksal des Menschen mal mehr oder weniger abhängt, ist eine sehr alte Vorstellung, die sämtliche Mythen, Legenden und Religionen prägt. So webte gemäß einer weit verbreiteten Vorstellung im Altertum die Schicksalsgöttin Moira aus verschlungenen Fäden die verschiedenen Lebensbahnen der Menschen. 

Bei den Römern tauschten dann die Parzen den Webstuhl mit der Schreibstube, um Glück und Unglück eines jeden einzelnen Erdenbürgers festzuschreiben. Die nordischen Mythen berichten von Nornen, die bei der Weltesche ihren Stammsitz haben und nicht nur über das Schicksal der Menschen, sondern auch der Götter bestimmen. Im Bereich des Musiktheaters lässt Richard Wagner diese faszinierenden Figuren ganz prominent im Vorspiel seiner 1876 uraufgeführten «Götterdämmerung»auftreten. Dort werfen sich die Nornen das Schicksalsseil zu und künden von vergangenem, gegenwärtigem und zukünftigem Geschehen. Allerdings verwirrt sich das Seil, da die alte, mythische Weltordnung aus den Fugen geraten ist.

Mit dem Rückgriff auf den von der französischen Klassik inspirierten Märchenstoff und dem Einbezug von wichtigen Bausteinen des Balletts stellte sich Prokofjew einer – um eine Denkfigur des Philosophen Roland Barthes aufzugreifen – «radikalen Zerstörung der Kultur» entgegen. In Prokofjews «Cinderella»bilden die tänzerischen Figuren eine Brücke über die Verheerungen, die in jenen Jahren nicht nur an den konkreten Kriegsschauplätzen und Schreckensorten der Massenvernichtung, sondern auch in den Seelen der Menschen angerichtet wurden.

Auszug aus dem Programmheft zu «Cinderella»

Premiere beim Bayerischen Staatsballett im Nationaltheater München am 19. November 2021

Fotos: © Bayerisches Staatsballett / Stephanie Pfaender

Text: © Bayerisches Staatsballett / Serge Honegger